Seit Anfang 2004 habe ich die Pflege meiner altersdementen Mutter übernommen und schreibe in diesem Büchlein über meine Erfahrungen, die trotz oft schwieriger Situationen in der Feststellung münden: "Ich würde es jederzeit wieder tun!" Auch in diesem Büchlein informiere ich wieder ungeschminkt über die Tatsachen, wie ich sie erlebe. Gleichzeitig mit der Pflege und auch durch dieses Büchlein habe ich alte Tochter-Mutter-Konflikte relativieren und aufarbeiten können. Ich bin weiterhin stets um sachlichen Umgang und kreative, lockere Antworten auf die jeweiligen Herausforderungen bemüht.
Das oberste Gebot, die Liebe ebenso wie ethische Beweggründe zur Geltung kommen zu lassen, bedarf des Abstandes von sich selbst und der Lösung aus eingefahrenen Reaktionsmustern. Ein Abstand übrigens, der es erst ermöglicht, das Leben so, wie es auf uns zukommt, nicht zu dramatisieren sondern ohne Unter- oder Überbewertungen ungeschminkt zu integrieren. Nicht nur der deutliche Abstand von mir selbst sondern auch von meiner Mutter ermöglicht es mir, auch meine eigenen Interessen wahrzunehmen und immer wieder zu mir selbst und somit zur inneren Ruhe zu kommen.
Ich begann am 6. September 2006 mit dem Bücherschreiben. Das war zweieinhalb Jahre nach der Pflegeübernahme, die mein gesamtes Leben zunächst noch einmal erneut völlig auf den Kopf gestellt hatte, weil ich dafür nicht nur aus der eigenen Wohnung an der Costa Blanca nach Hamburg in das sehr kleine Reihenhäuschen meiner Mutter wechselte sondern auch, weil ich von da an nicht mehr zum regelmäßigen Musizieren außerhalb des Hauses noch zu meinen geliebten Bergtouren kam. Das habe ich allerdings nicht zum Drama gemacht sondern eine Umstellung herbeigeführt. Regelmäßige körperliche Bewegung habe ich heute durch Schwimmen, Fitness-Studio, Joggen, Rekreation durch Spaziergänge und Saunen. Und zu mir selbst komme ich durch Entspannungsübungen, Singen, Musizieren und Schreiben.
Nach den beiden Selbsttherapiebüchern entstand mein Buch über die Schillersche Bürgschaft, eine Botschaft über die Themen Treue und Wahrhaftigkeit, Ethik und Ästhetik. Die gründliche Arbeit an diesem Werk führte dazu, dass ich meine neue Lebensform noch gründlicher verankern konnte in dem ich noch mehr erkannte, wo meine eigenen Werte, meine Würde und meine Lebensziele liegen: Im Gutsein mir selbst und anderen Menschen, die, wie Albert Schweitzer sagte: "leben wollen mitten unter Leben, das leben will." Das ist ein hehres Ziel, das natürlich immer wieder durch innere und äußere Einwirkungen Rückschläge auszubalancieren hat, wie wir sie in Schillers Ballade vorgeführt bekommen. Am Ende aber stellt sich ein einzigartiges, organisches Fließgleichgewicht zwischen Herausforderungen und Ruhe ein. Und in dieser Mitte spielt sich mein Leben zusammen mit meiner lieben Mutter ab.
Nur auf der Grundlage zur Selbstliebe, der eigenen Entfaltung und den eigenen Zielen sowie durch unerschütterlich-wahrhaftigen, ehrlichen Umgang und Treue zu sich selbst ist der Mensch überhaupt imstande, seinen Mitmenschen gegenüber in dieser in Treue und Wahrhaftigkeit verankerten Liebe auch durch Widrigkeiten hindurch Wort zu halten. Die eigene Ent-Scheidung wird dadurch erst zum wirklichen Ent-Schluss, nämlich zu Wendepunkt und neuer Richtung: Zur gewollten Wegstrecke, hinter der ich mit meinem Willen und Handeln auch wirklich, ja: wirkschaffend stehen bleibe. Das ist das eigentliche benediktinische Bleiben, diese Stabilitas, nach der wir streben und die wir unentwegt aufrecht erhalten sollten.
Ich habe meiner Mutter nicht nur in die Hand sondern mit einer herzlichen Umarmung versprochen, ihr den sehnlichsten Wunsch zu erfüllen, in Würde in den eigenen vier Wänden alt zu werden und bis zum Ende hier bleiben zu können. Und so ist mein Entschluss, ihr dieses Versprechen zu geben, auch zu meiner eigenen Lebensgestaltung immer dort geworden, wo die Schwäche meiner Mutter ihre Ansprüche nicht mehr durchsetzen kann. Denn der alte Mensch ist auf Gedeih und Verderb der Gnade anderer Menschen ausgeliefert.
Dieser andere Mensch bin ich selbst, die ich aus ihr dereinst hervorgegangen bin. Sie hat mir vorgelebt, was Treue ist, als sie mich unter widrigsten Umständen gebar und immer zu mir stand, sie hat mir ethische Werte vorgelebt, wenn andere Menschen mein Selbstvertrauen erschütterten. Ihre Schwächen, über die ich in diesem Büchlein ausführlich schreibe und die mich manchmal zermürbt haben, verblassen unter dem deutlichen Grundziel ihres eigenen Lebens: Absolut zu lieben und treu zu bleiben.
Gnade ist daher die andere Seite der Liebe. Wer liebt, ist auch gnädig, und ein alter Mensch ist auf Gedeih und Verderb der Gnade seiner Mitmenschen ausgeliefert. Diese Auslieferung an die Gnade soll erfüllt werden. Meine Antwort auf ihre eigene gnädige Liebe ist meine unerschütterliche Treue zu ihr. Und zwar mitten hindurch durch manchmal aufflackernden Zorn, wenn mir das Leben mit ihr zur Belastung wird.
Im Jahr 2008 schrieb ich eine reich bebilderte Familienchronik über meine fünfundzwanzig Ehejahre, was mich nochmals mit meiner Vergangenheit und dem Werden meiner Kinder in Berührung brachte. Ich schrieb diese Chronik in erster Linie mit der Absicht, meinen Kindern aufzuzeigen, dass neben den ihre Kindheit erheblich überschattenden Eheproblemen ihrer Eltern und durch häufige Umzüge und belastende Zwischenstationen, auf denen wir mehrfach geparkt wurden, doch sehr viel Schönes ihr Leben mitgeprägt hat. Mir diente es ebenfalls zur Relativierung böser Erlebnisse und zum Hervorheben des Schönen, das letztlich doch überwiegt, denn wir haben dass alles nicht nur überlebt sondern wir haben es erlebt und durchlebt: Wir sind durch das alles hindurch gekommen. Das Buch habe ich aus verständlichen Gründen nicht veröffentlicht, denn es ist absolut privat.
Ohne die intensive eigene und ohne Therapeuten durchgeführte, selbsttherapeutische Arbeit an einem über mehrere Jahrzehnte hindurch mein Leben deprimierendes posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS) und dessen vollkommene Löschung, wäre ich nicht in der Lage gewesen, auch die neue Herausforderung anzunehmen und mein Leben noch einmal umzugestalten. Auf der Grundlage dieser Selbsttherapie hat sich aber mein Umgang mit Lebensbelastungen und Herausforderungen ganz wesentlich wandeln können, sodass mir die Pflege der Mutter gar nicht mehr als solche bewusst wird. Vielmehr lebe ich lediglich eine besondere gemeinschaftliche Lebensform: Das Leben mit meiner dementen Mutter. Und ich würde es immer wieder so machen.
Die "Jugend meines Alters" - ich bin Jahrgang 1946 - erlebe und durchlebe ich nun zusammen mit meiner lieben Mutter. Was danach sein wird, sorgt mich heute nicht, denn heute gut gelebt, macht aus jedem Morgen einen Stern der Hoffnung. Wahrscheinlich werde ich später an die Costa Blanca zurückkehren. Das kann aber noch lange dauern. Also koste ich das Heute zusammen mit meiner Mutter bis auf den Grund aus! |